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Leiner und Nissan fusionieren
Der Titel mag vielleicht nach einer sensationslüsternen Wirtschaftsmeldung klingen. Der Textinhalt soll den Leser aber dafür umso mehr aus einer „wirtschaftlichen“, materiellen Welt in die spirituellen Sphären des Auszugsgedenkens erheben. Denn seit „Rosh Chodesh Nissan“, dem Beginn des Erlösungsmonats des hebräischen Kalenders, ist nun endgültig Pessach „ausgebrochen“. Oder, wie die Pessach-Haggada bereits so treffend fragt: „‚Jachol miRosh Chodesh?’ – Kann es sein, dass die Pflicht über die Erzählung des Auszuges aus Mizrajim bereits am Monatsanfang einsetzt?“
Zwar beschließt die Haggada dann, dass die „Erzählungspflicht“ erst am Sederabend des 15. Nissans eintritt, wenn Mazza und Maror vor einem stehen, eine gewisse „Erzählungslust“ hat sie einem aber damit schon ab Rosh Chodesh beschert. Der Leiner meint daher: „Jachol miRosh Chodesh!“ – man kann sich sicherlich schon ab dem Monatsbeginn mit den Mizwot und der Geschichte von Pessach auseinandersetzen. Man kann schon jetzt den Finger ein wenig in Rotwein tunken und verstohlen nach himmlischen Propheten oder verstecken Mazza-Säckchen Ausschau halten. Zumindest einmal in theoretischer Form, aber dafür mit praktischen Implikationen für die „Nacht der Nächte“.
Scheinwerferlicht - Gleich am Beginn des erzählerischen Teils des Sederabends stehen die Kinder im Scheinwerferlicht. Es ist mitunter rührend zu sehen, wie unterschiedlich jedes Kind die Passage der „Vier Fragen“ – „Ma Nishtana“ – absolviert. Ob sich der Autor der Haggada möglicherweise von dieser Begegnung mit den unterschiedlichsten Charakteren der kindlichen Hauptdarsteller zu dem Akt der „vier Söhne“ hinreißen ließ, bleibt vorerst offen. Doch, dass Kinder tatsächlich so verschieden sein können, wie es die Haggada später nahelegt, scheint sich hier erst einmal zu bewahrheiten.
So manches Kind steigt da verlegen von einem Fuß auf den anderen, steckt sich einen Finger in den Mund und zählt verträumt die Punkte auf den Couchmöbeln, während es seine Fragen herunterleiert. Ein anders Kind wiederum wähnt sich in einer Karaoke-Show zu nächtlicher Stunde und singt selbstbewusst und tonangebend den Fragenkatalog vor. Obwohl zwar auch hier der Ton die Musik macht, unterscheiden sich die vier Fragen inhaltlich aber nie: Warum man denn in dieser Nacht Mazza und Maror esse, lauten die ersten beiden Fragen. Warum man an diesem Abend gleich zweimal eintunke und angelehnt essen und trinken müsse, lauten die letzten beiden.
Fragen über Fragen - Doch bevor man nun zu viele „Fragen über Fragen“ stellt, und endgültig die Orientierung am Vierer-Parcours des Sederabends verliert, lohnt sich noch ein Blick auf die Antwort, die man den Kindern schließlich auftischt. Auch hier ergeben sich zwischen den Sederführern wohl ähnliche charakterliche Unterschiede wie beim „Ma-Nishtana-Karaoke“. Doch der weiße Kittel vermittelt den Kindern sicherlich genügend Respekt, um etwaige Fingerlutscher und Punktezähler unter den Vätern gerade noch abzufangen. Und die Antwort lässt einen vorerst auch nicht im Stich:
„‚Avadim Hajinu’ – Wir waren Pharaos Knechte in Mizrajim und Hashem hat uns von dort herausgeholt“, hallt es da durch die Sedernacht, „und wenn Hashem uns nicht erlöst hätte, dann wären wir und unsere Nachkommen noch heute in Mizrajim!“ Die furchtsamen Augen der Kinder blicken den Sederführer gespannt an. Geblendet vom strahlenden Weiß des Kittels, beunruhigt vom Gedanken einer unwillkommenen Knechtschaft.
Die „fünfte Frage“ - Allerdings lassen trotzige Reaktionen der Kinder nicht lange auf sich warten: „Abba! Ich verstehe das nicht! Wo ist die Antwort auf unsere Fragen?“ Manch einer erlaubt sich in diesem Zusammenhang gar von der „fünften Frage“ zu sprechen, die die Kinder am Sederabend stellen. Und tatsächlich scheint die Antwort mehr Fragen überzulassen, als die Kinder zunächst hatten. Daher kommt es nun unweigerlich zum spannendsten Punkt der Sederabend-Erzählungen: Der Vater erklärt den Kindern die Antwort auf ihre vier bis fünf Fragen.
Haggada-Zug - Zugegebenermaßen keine leichte Aufgabe. Diverse Kommentatoren überbieten sich gegenseitig an Spitzfindigkeiten über die genaue Bedeutung der Antwort der Haggada. Basistenor dieser Kommentatoren ist, dass die Antworten quasi „eine Schicht tiefer“ begraben sind. „Wir waren Knechte“ soll die Antwort auf die Frage sein, warum wir Maror essen. Das bittere Maror soll an die bittere Knechtschaft erinnern. „Hashem hat uns dort herausgeholt“ gibt zu verstehen, warum wir Mazza essen. Nämlich weil das ungesäuerte „Eil-Brot“ der einzige Reiseproviant war, den die Bnei Jisrael im Aufbruchschaos noch mitnehmen konnten. Auch für die vierte Frage nach dem Brauch, nur angelehnt zu essen, kann man Erklärungen finden. Schließlich ist dies der Weg, wie freie und befreite Menschen ihre Speisen aufnehmen. In aller Ruhe und Entspannung, eben ganz bequem angelehnt.
Einzig bei der dritten Frage nach dem Eintunken wird es ein wenig holprig mit der „Antwortenbeschaffung“. Doch da der Vater auch bisher für die anderen drei Fragen keine geradlinige, konkrete Antwort parat hatte, sondern nur indirekt Erkenntnisse als Antworten präsentierte, fällt dies den meisten Kindern nicht weiter auf. Außerdem ist ihr Blutzuckerspiegel nach der Einnahme der ersten „Belohnungen“ für die vier Fragen mittlerweile schon genügend angestiegen, um sie auch dahingehend etwas zu beruhigen. Der Vater kann sich also mit zitternden Knien gerade noch zum nächsten Manöver der Haggada retten, um die Kinder von der fehlenden Antwort abzulenken.
Klare Antworten - Doch im weiteren Verlauf gerät der Vater wieder in schwieriges Fahrwasser. Die Mishna des Raban Gamliel taucht drohend am Haggada-Horizont auf. Dort widmet sich die Haggada dann plötzlich doch detailliert den Antworten auf einige der oben angeführten Fragen. „Warum essen wir Mazza?“, fragt dort Raban Gamliel ganz im Stile der minderjährigen Sederstars, und er antwortet sinngemäß: „Weil wir es so eilig hatten! Und das Maror? Weil die Knechtschaft so bitter war!“
Die Kinder horchen nun auf. Endlich wird Klartext gesprochen! „Warum hast du uns das denn nicht gleich geantwortet?“, werfen die Kinder im Chor ein. Die hilflosen Verteidigungsversuche des Vaters bringen ihn nicht viel weiter. Er kratzt sich hier womöglich selbst den Kopf, warum die Haggada erst jetzt reinen Wein einschenkt und vorher nur den indirekten Weg suchte. Er muss aber aus Zeitmangel sogleich mit der Haggada fortfahren. Schließlich dauert der Abend auch von dieser Stelle aus noch recht lange, und die letzte Ballade vor dem tosenden Schnarcheinsatz des Vaters, die sich um den günstigen Einkauf eines Lämmchens dreht, liegt noch in weiter Ferne.
Kren-Marterpfahl Uns allerdings bietet sich jetzt sehr wohl die Möglichkeit einzuhaken. Wo wir doch gerade erst Rosh Chodesh schrieben, lässt sich diese wesentliche Frage jetzt noch in aller Ruhe vor dem Eintreffen der Sedernacht ergründen: Warum gibt die Haggada eigentlich nicht gleich eine einleuchtende Antwort auf die vier Fragen? Als ob es nicht schwer genug wäre, sich durch den Sederabend zu kämpfen! Eine vierbechrige „Mutprobe“ zu bestehen, einen „Mazza-Essrekord“ aufzustellen und stechend scharfe Qualen am „Kren-Marterpfahl“ zu erleiden. Und das alles noch singend, tanzend und in bester Familienlaune. Hätte die Haggada dem Sederführer nicht wenigstens mit einer klaren Antwort auf die vier Fragen unter die Arme greifen können?
Doch möglicherweise liegt der Schlüssel zum vertiefenden Verständnis dieser Vorgehensweise des Autors der Haggada in der viel gesuchten Antwort auf die dritte Frage nach dem Eintunken. Vielleicht kann man ja bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage gleich zwei Fragen auf einen Schlag beantworten. Aber dafür muss man wohl erst einmal richtig ans „Eingemachte“ bzw. „Eingetunkte“ gehen und nun endlich auflösen, was es mit der Tunkerei wirklich auf sich hat.
Lockmittel - Natürlich gibt es auch hier zahlreiche Andockstellen. Das zweimalige Eintunken, so meinen viele Kommentatoren, dient in erster Linie als „Lockmittel“, um das Interesse der Kinder zu wecken. Wo es doch schon ungewöhnlich ist, bei der Mahlzeit einmal etwas einzutunken, gibt einem das zweite Mal erst recht ein ordentliches Rätsel auf. Zuerst tunkt man am Sederabend ein „Grünzeug“ (z. B.: Kartoffel, Radieschen) in Salzwasser und beim zweiten Mal das Maror in die süßlich-nussige Charoset-Paste. Sogar das schüchternste Kind würde bei so einer wilden Tunkerei wohl stutzig werden und zur Sicherheit mal nachfragen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Das Tunken soll zum Fragen anregen. Und dann kann der Vater auch endlich seiner Pflicht nachkommen, dem neugierigen Kind ausgiebig vom Auszug aus Mizrajim zu erzählen.
Marketingkampagne - Ein reiner Marketing-Trick also, der sich hinter dem Eintunken verbirgt, nämlich das Kind so erst zum Fragen zu bewegen und neugierig zu machen. Klar, ein neugieriges Kind wird die Informationen besser und genauer aufnehmen als ein gelangweiltes. Und während heutzutage kluge Köpfe Millionen „verdenken“, um eine Marketingkampagne zu erstellen, bleibt das Judentum bisweilen bei einfacheren Methoden: dem Tunken. „Tunke dich neugierig!“, hätten die Marketingexperten das vielleicht genannt. Welch genialer Einfall!
Auch der Chatam Sofer, der sicherlich auch den Klügsten dieser Experten mit seinem Intellekt ausgehebelt hätte, gehört zu den „Schatzsuchern“ nach der „verlorenen dritten Antwort“. Und er geht mächtig ins Detail: Laut ihm soll nämlich auch die Antwort auf die dritte Frage doch in der Avadim-Hajinu-Passage verborgen liegen, und zwar in dem Teil: „… und wenn Hashem uns nicht erlöst hätte, dann wären wir und unsere Nachkommen noch heute in Mizrajim!“
Pessach, Mazza, Maror - Der Chatam Sofer betont, dass die Mizwot der Sedernacht nämlich nicht nur den Zweck hätten, eine bloße Erinnerung, ein nacktes Gedenken zu erfüllen. Die Sedernacht soll auch uns – die „Sederlinge“ – direkt betreffen und in ihren Bann ziehen. Als Beweis dafür erwähnt der Chatam Sofer die Mishna des Raban Gamliel: „Jeder, der die folgenden drei Sachen an diesem Abend nicht erwähnt, hat die Mizwa nicht erfüllt. Sie lauten: Pessach, Mazza und Maror“, heißt es dort. Diese drei „Wahrzeichen“ sollen laut Raban Gamliel den Kern- und Hebelpunkt des Seders bilden. Ohne die Erwähnung dieser drei Worte gilt der Sederabend nicht als erfüllt.
Dieses Konzept, das den meisten wohl bekannt sein dürfte, erweitert der Chatam Sofer nun. Er meint, dass auch die nachfolgenden Erklärungen – „Al Shum Ma?“ – zur Erfüllungsverpflichtung gehören. Diese Erklärungen liefern dabei immer eine direkte Begründung für die jeweilige Mizwa. Die Gegensätzlichkeit zur Antwort auf die vier Fragen wurde dabei schon vorhin entsprechend erörtert. Doch was der Chatam Sofer hier nun als wesentliche, neue Erkenntnis einbringt, ist, dass auch das Wissen um die Gründe für die Dinge, die man an diesem Abend tut, ein essentieller Teil der Erfüllung der Mizwot der Sedernacht ist. Denn wenn ich weiß, warum man Maror isst – weil es bitter war – und warum man Mazza ist – weil es die Bnei Jisrael eilig hatten –, dann kommt einem die Erleuchtung erst: „Was für ein Glück hatten wir eigentlich! Wenn Hashem uns nicht erlöst hätte, dann wären wir und unsere Nachkommen ja noch heute in Mizrajim! Nur durch Hashems Güte konnten wir Mizrajim überhaupt verlassen!“ Und diese Erkenntnis, meint der Chatam Sofer, ist das Um und Auf, das wahre Ziel des Sederabends laut Raban Gamliel.
Erkenntiskatalysator - Der Chatam Sofer schließt nun, dass auch das Eintunken an sich dasselbe Ziel verfolgt: Auch die getunkte Kartoffel dient in Wahrheit als „Erkenntiskatalysator“ für die Sederkinder. Denn die Kartoffel macht sie erst neugierig, die Neugierde erhöht ihre Erkenntnissensibilität, und so werden die Kinder an die ultimative Erkenntnis herangeführt, dass das Thema sie auch heute noch betrifft. Auch sie wurden damals erlöst, sonst wären sie noch dort!
Daher meint der Chatam Sofer, dass der Autor der Haggada die Antwort auf die dritte Frage sehr wohl in diesem Satz des „Avadim Hajinu“ verborgen hat. „Wenn Hashem uns nicht erlöst hätte, dann wären wir und unsere Nachkommen noch heute in Mizrajim!“ drückt nämlich genau diese Erkenntnis aus, auch selbst erlöst worden zu sein. Und aus diesem Grund tunken wir die Kartoffel ja ein. Sie soll zum Fragen anregen und die Aufmerksamkeitsspanne so weit erhöhen, bis das Kind schließlich zu dieser Erkenntnis kommen kann, die laut Raban Gamliel zur Erfüllungsverpflichtung gehört.
Code entschlüsseln - Möglicherweise kann uns diese Erleuchtung des Chatam Sofers wie angekündigt nun auch beim besseren Verständnis der „codierten“ Vorgehensweise des Autors der Haggada behilflich sein und erklären, warum zuerst keine direkte Antwort auf die vier Fragen folgt. Womöglich wollte er an dieser Stelle einfach noch keine klare Antwort geben. Den vier Fragen gebührt an dieser Stelle noch gar keine klare Antwort. Schließlich haben die Kinder noch keine Gelegenheit gehabt, zur „Kernerkenntnis“ des Seders zu gelangen, nämlich, dass es auch sie selbst betrifft.
Wer das schon an dieser Stelle verstehen kann, ist herzlichst eingeladen, die Antworten aus dem „Avadim Hajinu“ entsprechend zu „entschlüsseln“. Aber für direkte Antworten ist es im jetzigen Stadium des Sederabends einfach noch zu früh. Doch von der Mishna des Raban Gamliel an ist es nicht mehr weit bis zum Knusper- und Tränenereignis der Mazza und des Marors.
Hallel Mizrajim - Die Kinder wurden nun schon durch die gesamte Erzählung der Haggada geleitet. Sie haben Hashems furchtsame Hand bei den Plagen kennen gelernt und sind über die Geschichte des jüdischen Volkes aufgeklärt worden. Wenn man ihnen jetzt verrät, wieso man Mazza und Maror isst, ihnen endlich eine direkte Antwort auf ihre Fragen gibt, dann werden sie damit auch sicherlich zur Kernerkenntnis des Abends gelangen.
Und daher erhebt man gleich danach sein Glas und bricht in schallenden, ehrlichen Lobgesang aus. „Hallel Mizrajim“ wird das von den Kommentatoren genannt. Wahrscheinlich auch, weil sich alle Anwesenden nun in höchstem Maße als ausziehendes Volk fühlen und quasi ihr „Hallel“ wie in „Mizrajim“ verrichten.
Mickrige Wunder - Was sich jedoch nun immer mehr herauskristallisiert, ist, dass am Sederabend vor allem erklärende Väter und fragende Kinder vonnöten sind. Der Sederabend erfordert in der Tat intensive Vorbereitung und exakte logistische Planung. Um das Ziel der „Kernerkenntnis“ zu erreichen, darf nichts dem Zufall überlassen werden. „Jachol miRosh Chodesh!“ – es ist noch genügend Zeit, um seine Seder-Sinne entsprechend zu schärfen und sich für die „Nacht der Nächte“ zu rüsten.
Daher appelliert diese motorisierte Nissan-Leiner-Version an den Leser, die Zeit nicht verstreichen zu lassen, ehe Mazza und Maror vor einem stehen und die Erfüllungsverpflichtung einen eingeholt hat. Und im Verdienst einer erfolgreich verrichteten Sedernacht wird Hashem sich nochmals erbarmen und uns – Bimhera BeJamenu – in einer Art erlösen, die die Wunder in Mizrajim mickrig erscheinen lassen wird, Amen.(AB)
Das Leiner-Buch ist unter folgendem Link erhältlich: http://www.amazon.de/Leiner-Analysen-zum-Wochenabschnitt-Tora/dp/3735784097/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1395844852&sr=1-1
Beim Autor stehen Eigendruck-Exemplare um 24,- € zum Direktkauf zur Verfügung. arieh.bauer(at)gmail.com